Im Gegensatz zu „Ach, diese Lücke…“ war mir der Roman „Manhattan Transfer“ auch schon vor der Auszeichnung Hörbuch des Jahres 2016 der hr2-Hörbuchbestenliste durchaus ein Begriff, genau wie der Autor John Dos Passos. Allerdings kannte ich keinen seiner Texte, vom im selben Jahr geborenen F. Scott Fitzgerald (z.B. „Früher Erfolg“ oder „Zärtlich ist die Nacht“) dafür umso mehr.
Das pralle Leben: New York 1896-1924
Die Hüllen der CDs geben den zeitlichen Rahmen bereits preis. Der Roman, und damit auch das Hörbuch, lässt sich nämlich in drei Teile gliedern. Er spielt 1896-1905, 1913-1916 und 1918-1924. Es geht also um eine geschichtlich, politisch, wirtschaftlich und kulturell interessante Zeit. Beim Angebot einer Zeitreise würde ich diese Periode auf jeden Fall in die engere Wahl nehmen.
Dass die Geschichte von „Manhattan Transfer“ vor über 100 Jahren spielt, konnte ich beim Hören aber oft vergessen. Gut, es mag heute weniger (aber nicht überall kein) Problem sein, Damen- oder Herrenbesuch mit auf das Zimmer zu nehmen, aber sind unsere Probleme heute so anders als die der Figuren? Sie lieben sich, sie streiten sich, sie wollen groß heraus kommen, sich emanzipieren, Geld verdienen, sozial aufsteigen, sich selbst verwirklichen und das alles vor der Kulisse der Großstadt New York.
Herausfordernde Figurenfülle
Als Zuhörerin konnte ich das Leben unzähliger Figuren in vielen Szenen verfolgen (und mit unzählig meine ich, dass im ersten Teil schon fast 50 vorkommen und ich für die weiteren Teile nicht mehr gezählt habe). Diese sind sehr unterschiedlich, was ihre Herkunft, ihre Träume und ihren Werdegang angeht. Ihre Geschichten werden parallel und in Ausschnitten erzählt. Dabei blieb es mir überlassen, aus dem Handeln und den Gesprächen Schlüsse zu ziehen, da ich alles nur von außen dargestellt bekomme. Anstrengend wurde es durch die Fülle der Personen und die Tatsache, dass ich immer unterschiedlich lange Zeit mit ihnen ‚verbrachte‘. Manchmal sind es sehr kurze Szenen, in denen neue Charaktere eingeführt werden, die nie wieder auftauchen. Zur Erleichterung gibt es im Booklet eine Übersicht der Figuren und Sprechern. Ich habe mir tatsächlich ständig Notizen gemacht um nicht den Faden zu verlieren und war dann immer wieder überrascht, welche Figuren Dos Passos auf welche Weise zusammengeführt hat.
Das Kopfkino funktioniert, aber…
Ich fuhr mit dem Schiff an der Freiheitsstatue vorbei, stand mit in der Restaurantküche, saß im Café, lag auf der Pritsche in der Obdachlosenunterkunft und besuchte den Broadway.
Aber „Manhattan Transfer“ hat mich nicht gepackt. Vielleicht liegt es an der Erzählweise des Romans, aber ich hatte nie das Ich-will-wissen-wie-es-weitergeht-Gefühl. Ich fühlte mich informiert und konnte das Erzählen trotz des Kopfkinos nicht Erleben, ich konnte nicht mit fiebern. Fast sachbuchmäßig tauchte ich in das Leben damals ab und erlebte es durch die Augen der Figuren. Vielleicht lese ich den Roman noch und empfinde es dann anders, intensiver.
Beeindruckende Sprecherriege
Ich brauchte etwas Zeit, bis ich mich mit der Stimme und Sprechweise von Erzähler Stefan Konarske anfreunden konnte, dann reihte er sich aber schnell in die Reihe der wirklich rundum angenehmen Sprecher ein. Tatsächlich kann ich in dieser Beziehung nichts kritisieren. Die vielen bekannten Namen (Maren Eggert, Ulrich Matthes, Ulrich Noethen, Milan Peschel, Axel Prahl, Max von Pufendorf, Sophie Rois, Dörte Lyssewski, Wolf-Dietrich Sprenger, Alexander Khuon, Imogen Kogge, Johann von Bülow, Arnd Klawitter, Kathrin Angerer, Heikko Deutschmann…) machen ihren Job gut, wobei für mich auch niemand besonders hervorsticht.
Ich kann auch an der Arbeit des Regisseurs Leonhard Koppelmann nichts aussetzen. Dieses aufwändige Projekt funktioniert und bekommt durch die Arbeit des Komponisten Hermann Kretzschmar die passende Atmosphäre. Zunächst irritierte mich die Musik, fügt sich dann aber schlüssig ein und verändert sich auch passenderweise im Laufe des Hörspiels.
Das Fazit: befriedigend
Obwohl ich keine wirklichen Kritikpunkte habe, angesichts der Größe des Projektes meinen Respekt aussprechen muss (na gut, man hätte den Aufwand auch lassen können und einfach Stefan Kaminski lesen lassen…J) und wirklich nicht weiß, was man hätte besser machen können: Müsste ich eine Schulnote vergeben, „Manhattan Transfer“ bekäme ein befriedigend. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Koproduktion mit SWR2 und DLF Hörspiel „Manhattan Transfer“ ist im Mai 2016 bei Hörbuch Hamburg erschienen. Die 6 CDs haben eine Laufzeit von 338 Minuten Laufzeit und kosten 20,00 € oder 16,95 € direkt über den Verlag.