„Literatur-, Theater-, Kommunikationswissenschaft, das sind doch mehr bizarre Freizeitbeschäftigungen. So was wie Wildcampen. Und wenn man es lange genug macht, darf man sich Universitätsdozent nennen.“
Das denkt zumindest der Wirtschaftswissenschaftler Roland Oberstein, Protagonist in Arnon Grünbergs Roman „Mit Haut und Haaren“. Aber das war für mich (mit meinem Abschluss in Theater- und Literaturwissenschaftlerin) kein Grund, das Buch wegzulegen. Denn auch die Wirtschaftswissenschaflter kommen nicht besser weg. Eigentlich kommt in diesem Buch niemand gut weg. Niemand ist glücklich und alle stecken in verkorksten Beziehungen fest.
Im Mittelpunkt dieser ganzen Verflechtungen steht der besagte Universitätsdozent Roland Oberstein und der wendet seine Wirtschaftstheorien auch auf seine zahlreichen Beziehungen an. Er versucht seine sozialen Kontakte auf ein Mindestmaß zu reduzieren und sich ganz seiner Forschung zu widmen. Das funktioniert natürlich alles nicht so wie geplant und er kann sich weder von seiner Vergangenheit noch von seinen Gefühlen trennen. Also keineswegs ein Traummann und trotzdem zieht er ziemlich viele Frauen an. Und da er nicht auffallen und das tun möchte, was die Leute von ihm erwarten, lässt er sich immer wieder auf neue Affären ein.
Eine große Rolle spielt aber auch der Holocaust. Diesen bezeichnet Oberstein als sein Hobby, er interessiert sich aus wirtschaftwissenschaftlicher Sicht dafür. Das hat also mit Arbeit zu tun und er behauptet, dass er nur bei der Arbeit entspannen könne. Tatsächlich merkt man auch, dass soziale Beziehungen für ihn sehr anstrengend sind. Die von den Frauen erwartete Leidenschaft besitzt er durchaus. Allerdings nur für seine Arbeit über die Geschichte der Spekulationsblasen.
Trotzdem wurde er für mich nicht zum Hassobjekt, weil Arnon Grünberg immer wieder durchscheinen lässt, warum Oberstein so geworden ist. Natürlich ist er kein Unschuldslamm aber man leidet doch mit ihm gemeinsam, wenn man liest, wie er sich total verrennt. Mich hat die Geschichte total in ihren Sog gezogen und durch ihre Überzogenheit hat man als Leser auch immer wieder etwas zum Lachen, mindestens zum Schmunzeln. Das Buch ist nicht ganz ohne, denn wie man das von Grünberg kennt, gibt es einige unerwartete Wendungen. Für ganz zartbesaitete und romantische Menschen ist das Buch wohl weniger geeignet, denn nicht jeder ist an den beschriebenen Sexszenen freiwillig beteiligt. Nach 700 Seiten ist der Spaß dann aber fast abrupt vorbei. Aber habe ja Obersteins Regel der Risikodiversifikation befolgt und nicht alles auf eine Karte gesetzt. In diesem Sinne bin ich froh, dass ich mich direkt auf die nächsten Bücher stürzen konnte.
Arnon Grünberg: Mit Haut und Haaren. Diogenes Verlag, 688 Seiten, 22,90 €.
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