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Die Republik

Buchlob: „Die Republik“ von Joost de Vries

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Die Niederlande und Flandern waren 2016 Gastländer auf der Frankfurter Buchmesse. Auch das Generalkonsulat der Niederlande in München machte Werbung dafür und verloste dabei „Die Republik“ von Joost de Vries. Ich hatte bisher weder von dem Autor, noch von dem Roman gehört, fand die Buchankündigung aber interessant und hatte Glück. Richtiges Glück.

Ich wollte wirklich sparsam sein und nur meine allerliebsten Stellen markieren. Es wurden 26. Dabei hat das Buch nur rund 300 Seiten. Rückblickend frage ich mich fast, wie so viel Inhalt auf vergleichsweise wenige Seiten passt. Ich bin beim Lesen völlig in die Welt von „Die Republik“ abgetaucht und finde das Buch so gut, dass ich etwas länger als gewöhnlich für die Rezension brauchte. Schließlich wollte und konnte ich hier nicht alle 26 Stellen zitieren und Kürze braucht ja bekanntlich ihre Zeit.

Der Autor

Joost de Vries wurde 1983 in Alkmaar geboren, studierte Geschichte und Journalismus und arbeitet als Redakteur. Mit „Die Republik“ veröffentlichte er seinen zweiten Roman, der bereits 2013 in den Niederlanden erschien. Er gewann einige Literaturpreise (Charlotte Köhler Stipendium, C.C.S. Crone-Preis, Goldene Büchereule) und wird von seinem deutschen Verlag Heyne-Encore auf der Webseite als „Die neue große Stimme der holländischen Literatur“ beworben. Da er in Nordholland geboren wurde, lasse ich das Wort holländisch mal gelten…

Zur Handlung

Der Tod seines Mentors Jossip Brik ist ein tiefer Einschnitt im Leben von Friso de Vos. Zusammen hatten sie für eine ‚Zeitschrift für Hitlerreportagen‘ geforscht und geschrieben, Friso hielt sich für seinen engsten Vertrauten. Wer aber ist Philip de Vries, der die Trauerrede auf Jossips Beerdigung hält, als Friso im Krankenbett liegt? Friso fühlt sich angegriffen, als rechtmäßiger Erbe betrogen und in seinem akademischen Ehrgeiz verletzt und beginnt zu recherchieren, um möglichst viel über seinen selbstgewählten Feind herauszubekommen. Eine Verwechslung auf einem Kongress in Wien mit ebendiesem Herrn bringt die Handlung rund um Täuschung und Selbsttäuschung so richtig in Schwung.

Der Schreibstil

Joost de Vries nimmt seine Leser auf einen recht wilden Ritt mit, denn Erinnerungen werden fließend in das Geschehen einbezogen und nicht, wie andere Einschübe, auch typografisch abgesetzt. Außerdem ist der Erzähler alles andere als zuverlässig und steigert sich in seine Verfolgung hinein. Dabei ist nicht immer klar, ob er sich selber seiner Täuschung nach außen bewusst ist. Vielleicht gibt er die Geschichte also ganz unabsichtlich falsch wieder?

So habe ich beim Lesen immer wieder darauf geachtet, ob sich Anzeichen für Falschdarstellungen finden. Was Joost de Vries dabei perfekt gelingt: Situationen und Gefühle mit absolut passenden Vergleichen und Beschreibungen darzustellen.

Joost de Vries hat einfach für viele Situationen Formulierungen gefunden, die in mir unmittelbar ein Bild erzeugten und mich oft genug mindestens zum Schmunzeln brachten. Wer kann sich nicht etwas darunter vorstellen, wenn eine Szene folgendermaßen beschrieben wird:

„Auf dem, was nun offenbar die Tanzfläche war, begannen zwei junge Männer ein Mädchen zu umtanzen, das wenig graziös, aber mit viel Hingabe Bewegungen mit dem Becken machte, und das fast im Takt zur Musik.“ (S. 104)

Wer hat solche Szenen noch nie beobachtet oder sich darüber aufgeregt, dass die Menschen um einen herum sich im falschen Takt bewegen? Ah, Leute die ‚falsch‘ klatschen, ein Horror… apropos Horror, den kann Joost de Vries auch in einem Satz herbeischreiben:

 „Pippa hatte sich in diesem Pool am Rande des Waldes von Anfang an nicht recht wohlgefühlt, an so einem Ort, an dem normalerweise Halbwüchsige in Horrorfilmen mit Fleischhaken aufgespießt werden.“ (S. 137)

Auch für andere Situationen findet er Formulierungen, die einfach sitzen:

„Ich spürte eine merkwürdige Art von Adrenalinschub, wie ich ihn nicht mehr gekannt hatte, seit ich als Zehnjähriger die knarzende Treppe zum Dachboden hochgeschlichen war, um mit dem kleinen Vermögen an Modelleisenbahnen meines Vaters zu spielen“ (S.45)

„Ich konnte nichts abarbeiten, das Uni-Leben drängte sich mir auf wie eine Internetseite, die schneller Pop-ups ausspuckt, als man wegklicken kann.“ (S. 58)

Ein Spiel mit Fiktion und Realität

Bis zum Schluss ist mir nicht ganz klargeworden, ob ich dem Erzähler vertrauen kann. Schließlich ist das jemand, der sich für eine andere Person ausgibt und manchmal ist es durchaus unklar, wie weit er dieses Spiel eigentlich kontrolliert. Ist das, was er erzählt, tatsächlich so passiert? Und der Autor? Gibt der Nemesis seiner Hauptfiguren den eigenen Nachnamen. Andererseits geht es in „Die Republik“ um einiges an Literatur. Der Großteil davon ist ausgedacht aber dann nennt de Vries tatsächlich existierende Schriften. Aber macht das für mich als Leserin einen Unterschied?

In einem kurzen Video sagt de Vries, dass es im Roman darum geht, wie Fiktion die Realität verdrängt. Dazu lässt er Friso sehr passende Worte sagen:

„Wer aus unserer Generation konnte noch an D-Day denken, ohne das anhand des Films Der Soldat James Ryan zu visualisieren? Und wenn diese Vorstellungen dann auf Wahrheit beruhen, spielt das keine Rolle mehr.“ (S. 74)

Wisst ihr eigentlich, wie Hitler ausgesehen und gesprochen hat oder habt ihr eine Filmszene mit Bruno Ganz im Kopf?

(Zusatzaufgabe: Wie treffend findet ihr die Bilder auf der Seite Things that look like Hitler, von der auch einige im Buch abgebildet sind?)

Die RepublikFazit „Die Republik“

Was für ein großartiges Buch! Die Handlung hat mich gefesselt und der Schreibstil begeistert. Es ist kein Krimi, aber doch fast durchgehend spannend und entwickelt dabei einen ganz eigenen Humor, der meinen hundertprozentig getroffen hat. Und wie toll ist es bitteschön, dass die Bildsprache ständig darauf verweist, wie weit unsere Realität tatsächlich von der Fiktion beeinflusst wird? Die vielen Verweise kommen keinesfalls akademisch rüber, obwohl „Die Republik“ genau in diesem Milieu spielt und wirken auch nicht aufgesetzt. Eigentlich möchte ich direkt eine Fortsetzung fordern, aber andererseits bin ich gespannt was für weitere Geschichten der Autor noch auf Lager hat. Ich hoffe auf viele weitere Romane von Joost de Vries und werde beim nächsten Aufenthalt in den Niederlanden nach seinen anderen Büchern schauen. Das Buch hat sich seinen Platz im Bücherregal bei meinen Lieblingsbüchern von Arnon Grunberg (mein absoluter Favorit  ist „Tirza“), rezensiert habe ich aber bisher „Mitgenommen“ und „Mit Haut und Haaren“) und Harry Mulisch redlich verdient.

„Die Republik“ von Joost de Vries ist im August 2016 in der Übersetzung von Martina den Hertog-Vogt erschienen. Die gebundene Version mit Schutzumschlag kostet 19,99 €. Mein Exemplar bekam ich im Rahmen einer Verlosung des Niederländischen Generalkonsulates München.

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